Praxis Homöopathische Behandlung der Arthrose ZUSAMMENFA SS UN G S U M MARY Die Arthrose ist eine der häufigsten Erkrankungen in der Hausarztpraxis mit steigender Prävalenz. Sie bedeutet oft dauerhaft oder rezidivierend Schmerzen und Bewegungseinschränkung. Die Praxis zeigt, dass die Homöopathie auch eine gute Behandlungsoption sein kann. Anhand von 5 Fällen werden das Vorgehen, die Auswahl der Symptome und der weitere Verlauf dargestellt. Dabei orientiert sich die Mittelauswahl meist am vollständigen Symptom. Sollte dies nicht zu erheben sein, werden andere Analysewege gezeigt. Eingegangen wird auch auf die Zweitverschreibung und den Einsatz von Nosoden. Verschiedene Verläufe zeigen, dass Behandlungsziele und -möglichkeiten sehr differieren und Patientenwünsche beachtet werden sollten. Osteoarthrosis is one of the most common diseases in the family doctor´s office with increasing prevalence. Usually it implies permanent or recurrent pain and movement restriction. Experience shows that homeopathy can also be a good treatment option. Method, selection of symptoms and further course are presented on the basis of 5 cases. In these cases the homeopathic selection is usually oriented to the complete symptom. If this is not possible, other paths of analysis are shown as well as the second prescription and the application of nosodes. Different courses indicate that treatment intentions and possibilities differ a lot and patient wishes should be considered. Schlüsselwörter Arthrose, Bönninghausen, Zweitverschreibung, vollständiges Symptom Keywords Osteoarthritis, Boenninghausen, second prescription, complete symptom Grundlagen Bei der Arthrose (Arthrosis deformans; Osteoarthritis) handelt es sich um eine degenerative Zerstörung des Gelenkknorpels und Schädigung angrenzender Strukturen wie Knochen, Muskeln, Kapseln und Bänder. Außer Schmerzen kommen in der Regel Bewegungseinbußen mit Einschränkungen im Alltag hinzu, was zu einem erheblichen Verlust an Lebensqualität für die Betroffenen führen kann. „Arthrose gilt weltweit als die häufigste Gelenkerkrankung des erwachsenen Menschen. Da sie vornehmlich im höheren Lebensalter auftritt, ist angesichts des demografischen Wandels und des damit einhergehenden wachsenden Anteils an alten und sehr alten Menschen in den nächsten Jahrzehnten mit einem Anstieg des Vorkommens zu rechnen.“ [7] Nach Daten der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS) wurde bei 20,3% der erwachsenen Bevölkerung bis 80 Jahre eine Arthrose diagnostiziert; das entspricht 12,4 Millionen Betroffenen [3]. In Deutschland sind jährlich 30% der Frühberentungen mittelbar auf diese Erkrankung zurückzuführen [6]. Häufigkeit in der Hausarztpraxis Arthrose ist einer der häufigsten Beratungsanlässe in einer allgemeinmedizinischen Praxis [4], auch in unserer haus- 22 ärztlichen Gemeinschaftspraxis. Patienten sprechen mich wegen dieser Erkrankung aber deutlich seltener auf eine Behandlung durch Homöopathie an, als die Häufigkeit der Erkrankung erwarten ließe. Woran liegt das? Ist die Homöopathie bei dieser Indikation ein ineffektives Verfahren? Biete ich es selbst zu selten als Behandlungsoption an? Bei der Sichtung meiner Fälle konnte ich eine größere Anzahl an erfolgreich behandelten Arthrosefällen finden, was mich durchaus überraschte. Scheinbar sind mir Arthrosebehandlungen weit weniger präsent als Behandlungen vieler anderer Schmerzerkrankungen. Anders als z.B. bei einer Neuralgie ist der Behandlungserfolg oft weniger einschneidend und teilweise auch inkomplett. Die gewonnene Lebensqualität und die Einsparung von Schmerzmitteln sollte aus meiner Sicht allerdings auch als Erfolg gewertet werden. Vorgehen in der Hausarztpraxis Neben physiotherapeutischen Maßnahmen, Gesundheitsberatung (Gewichtsabnahme, Ernährung und Anhalten zur Bewegung) und medikamentöser Schmerztherapie bieten wir noch Blutegel und Phytotherapie als Behandlungsoptionen bei Arthrose in unserer Praxis an. In anderen Praxen kommt noch die Akupunktur hinzu. Anhand der unten vorgestellten Fälle mit längerer Nachbeobachtung möchte ich mein Vorgehen bei der Arthrosebehandlung mit Homöopathie erläutern. Albrecht D. Homöopathische Behandlung der ... AHZ 2017; 262: 22–29 Heruntergeladen von: Vanderbilt University. Urheberrechtlich geschützt. Daniela Albrecht Fall 1: Polyarthrose Eine 64-jährige Patientin, sportlich forsches Auftreten, klein und drahtig, kommt im Juli 2013 mit multiplen degenerativen Gelenkbeschwerden zur Erstanamnese. Seit mehr als 9 Jahren habe sie Arthrose. Alles habe in ihren Iliosakralgelenken begonnen und sich dann auf die Schultern, Knie, HWS und Handgelenke ausgebreitet. 2010 habe sie sich an der rechten Schulter operieren lassen. Jetzt müss- ten die andere Schulter und vielleicht auch ein Knie operiert werden, aber sie könne sich „doch nicht überall herumschneiden lassen“. Nach nur wenig Belastung habe sie „spannende, drückende und oft auch ziehende Schmerzen“. Manchmal habe sie das Gefühl, als springe ein Gelenk heraus. Am meisten Probleme mache ihr die linke, aber auch immer wieder die rechte Schulter. Oft könne sie kaum noch etwas in die Schränke einräumen, so komme sie in ihrem Wohnmobil nicht mehr zurecht. Besonders das Anheben der Arme verschlechtere die Schmerzen, und es kribble wie Brennnesseln. Rasten möge sie gar nicht, da sie i nsgesamt Bewegung als bessernd empfinde. Im Herbst und Frühjahr mache ihr das feucht-kalte Wetter Probleme. Die Hierarchisierung der Symptome und die Repertorisation werden aus ▶Tab. 1.1 bzw. ▶ Abb. 1 deutlich. Heruntergeladen von: Vanderbilt University. Urheberrechtlich geschützt. Hierarchisierungstabelle Bei den folgenden Fällen habe ich nur die Anamnese der Gelenkbeschwerden genauer dargestellt. Alle weiteren in der Anamnese relevanten Symptome sind in einer verkürzten Fassung in einer Hierarchisierungstabelle aufgeführt. Nach jeder Erstanamnese lege ich eine Tabelle mit den wichtigsten Symptomen an. Diese dient der Analyse, der Vorbereitung der Repertorisation und der besseren Strukturierung der Folgeanamnesen. ▶Tab. 1.1 Hierarchisierung 1 = §153 und/oder vollständiges Hauptsymptom ggf. mit Begleitsymptom, 2 = Gemütssymptome, 3 = Allgemeinsymptome, 4 = Familien- und Sozialanamnese, 5 = Lokalsymptome, soweit nicht in 1 Hierarchie Symptome 1 Gelenke (große), spannend, drückend, ziehend, < feucht-kalt, Heben der Arme, > Bewegung Kribbeln wie Brennnesseln 2 Diarrhö bei Erwartungsspannung (Koloskopie vor 6 Monaten o.p.B.) Kummer (Alkoholismus des Vaters und des ersten Ehemanns) – 2-mal Psychotherapie weine nie Ruhelosigkeit (kann nie still sitzen) plane Jahre im Voraus 3 Kopfschmerz ziehend in die Stirn < morgens < Schweinefleisch (Gelenke und Allgemein); Zugluft (Otitis externa) Verlangen: Süßigkeiten, bittere Schokolade 4 Mutter Mamma-Ca + 5 als Krankheiten im Kindesalter: Hämangiome, rezidivierende Otitis media Z. n. Myomen mit vaginalen Blutungen, OP 1989 Fibrom Brustdrüse ▶Abb. 1 Repertorisation 1 (TBG, [2]) Albrecht D. Homöopathische Behandlung der ... AHZ 2017; 262: 22–29 23 Praxis Mittelgabe und Verlauf Zunächst erhielt die Patientin am 26.07.2013 Kalium carbonicum C30 (DHU) 1 × 1. Darunter stellte sich innerhalb der nächsten 6 Wochen keine Besserung ein. Neu aufgetreten waren Schlafstörungen. Wegen einer anstehenden Reise gab sie an, auf Besserung durch das Reisen zu hoffen. Darauf erhielt sie Tuberculinum bovinum C200 (SchmidtNagel) 1 × 1, wegen Nichtansprechen auf ein gut gewähltes Mittel und des neu erhobenen Symptoms der Besserung auf Reisen. Trotz der Reise und dem damit prinzipiell verbundenen Problem der „Dauerverschüttelung“ hatte ich mich für eine Dilution entschieden, weil meiner Erfahrung nach die Dosierung besser funktioniert als mit C-Potenzen. Im März erschien sie mit folgenden Symptomen: Besonders die linke Schulter mache Probleme. Sie könne kaum noch darauf liegen. Heben des linken Armes falle ihr sehr schwer. Außerdem war sie in der Notfallambulanz, weil sie Stiche und ein Zusammendrücken in der Brust gehabt habe, dort wurde keine internistische Erkrankung g efunden. Zweitverschreibung Nach erneuter Repertorisation (▶ Abb. 2) erhielt sie am 20.03.2014 Ferrum metallicum C30 (DHU) 1 × 1/Woche. Bei sehr drängenden schmerzhaften Erkrankungen habe ich einen besseren Verlauf mit häufigeren Gaben zu Beginn erlebt. Bei deutlicher Besserung halte ich die Patienten an, die wöchentlichen Gaben auszusetzen und sich bei Unsicherheiten zu melden. Ferrum metallicum hat als wichtige Symptomenübereinstimmung die nächtlichen Schmerzen der linken Schulter (M. deltoideus). Es deckte die Modalitäten gut ab und passte für mich besser als Aconitum zum Gesamtbild dieser sehr resoluten und dynamischen Frau, wobei ich oft den Synoptic Key von C.M. Boger zugrunde lege. Die Rubrik „> Bewegung leidender Teile“ ist in meiner Repertorisation nicht korrekt verwendet, da sie sich eigentlich auf z.B. einen Arm mit Geschwür bezieht. Ich wende sie deutlich breiter an, was in der Praxis oft zu einer guten Mittelauswahl geführt hat. Ende April meldet sich die Patientin telefonisch: „Es geht mir sehr gut. Meine Schulter ist deutlich besser, und ich kann nachts wieder ohne Schmerzen schlafen. Seit einer Woche habe ich keine Globuli mehr genommen.“ Seitdem bekommt sie Ferrum metallicum bei Verschlechterung der Gelenke. Sie hat immer eine C-Potenz zu Hause 24 ▶Abb. 2 Repertorisation 2 (TBG, [2]) und notiert die Einnahme. Diese erfolgte in unregelmäßigen, meist mindestens 8 Wochen umfassenden Abständen. Der klinische Befund ist sehr stabil. Bei deutlicher Verkleinerung der Wirkdauer wechsle ich die Potenz. Sie hat bisher C200, C1000 und C10000 (alle Gudjons) erhalten. Fall 2: Heberdenarthrose und Tendovaginosis stenosans Eine schlanke, grauhaarige 53-jährige Patientin kommt mit Arthrose in den Fingern, den Händen, der linken Schulter und der Halswirbelsäule im Oktober 2007 zur Erstanamnese. Die Finger seien morgens steif und schmerzten schon nach kurzer Anstrengung. „Tue mich schwer beim Kartoffelschälen, das nervt mich ganz tüchtig, ständig muss ich Pause machen, und dann schmerzt es schon nach einer Kartoffel wieder. Oft bin ich nachts wach, weil mein linker Arm und meine Hände taub sind.“ Eine Karpaltunneloperation habe nichts geändert. In der Kälte springen der Mittel- und der Ringfinder der linken Hand, das sei nach der Operation losgegangen. Nach dem Heufüttern morgens im Pferdestall schmerze die linke Schulter. Die Hierarchisierung der Symptome und die Repertorisation werden aus ▶Tab. 1.2 und ▶Abb. 3 deutlich. Mittelgabe und Verlauf Die 4. Rubrik (▶ Abb. 3) habe ich für das „Springen“ der Finger genommen, auch wenn mit der Rubrik andere Beschwerden gemeint sind. Oft finde ich aber durch solche übertragenden Rubriken Mittel, die dann beim Materiamedica-Vergleich auch die gesuchten Beschwerden abdecken, sodass ich mir die Freiheit nehme. Beim Vergleich mit der Materia medica stimmten sowohl Calcium carbonicum als auch Silicea gut mit den Symptomen der Patientin überein, sodass ein Vergleich mit dem Kombinationsmittel Calcium silicicum u.a. in der Materia viva von Vithoulkas infrage kam. Zu der Kombinatorik von Salzen findet man gute und ausführliches Informationen in verschiedenen Artikeln von Ernst Trebin [8, 9]. Neben den körperlichen Symptomen konnte auch eine Übereinstimmung mit ihrer hohen Affinität zu FamilienangelegenAlbrecht D. Homöopathische Behandlung der ... AHZ 2017; 262: 22–29 Heruntergeladen von: Vanderbilt University. Urheberrechtlich geschützt. Vor Antritt der Reise 6 Wochen später ließ ich sie nochmals in der Praxis anrufen. Es habe sich eine Verbesserung des Allgemeinzustands und auch der Gelenke eingestellt. Sie schlafe wieder besser. Sie erhielt Tuberculinum bovinum Q1 (Rosegger), das sie nach Bedarf 1 × 1 Tropfen bei Verschlechterung der Gelenkbeschwerden einnehmen sollte. ▶Tab. 1.2 Hierarchisierung 1 = §153 und/oder vollständiges Hauptsymptom ggf. mit Begleitsymptom, 2 = Gemütssymptome, 3 = Allgemeinsymptome, 4 = Familien- und Sozialanamnese, 5 = Lokalsymptome, soweit nicht in 1 Hierarchie Symptome 1 Gelenke linke Seite (Hand, Schulter, Finger) schmerzen durch Handarbeit, Bewegung, leichte Anstrengung Taubheit Arm/Hand links nachts springende Finger bei Eintritt in die Kälte und Handarbeit, seit OP? Zähne brechen ab 2 Kummer Mann, finanzielle Sorgen kann nur schwer Gefühle ausdrücken 3 Erwachen nach Mitternacht, kann nur schwer wieder einschlafen (Klimakterium), nicht müde Schlaflage Bauch Obstipation bei Bewegungsmangel, finde sie nicht unangenehm Durst wenig, Essen unauffällig Warzen Hände 4 Z.n. Gesichtslähmung rechts Z.n. Bandscheibenprotusion HWS Heruntergeladen von: Vanderbilt University. Urheberrechtlich geschützt. 5 ▶Abb. 3 Repertorisation (SY, [10]) heiten und weiteren Allgemeinsymptomen gefunden werden. Am 15.10.2007 begann sie mit Calcium silicicum Q3 (Zinsser) 1 × 3 Tropfen/Tag. In der Folgeanamnese gab sie an, am 29.10.2007 Fieber mit Kopf- und Gliederschmerzen bekommen zu haben. Das hatte sie schon seit Jahren nicht mehr gehabt. Ihr Schlaf sei sehr gut und die Hände etwas gebessert. Wir bestellten die Q6 (Zinsser). Bei Verschlechterung sollte sie auf diese Potenz wechseln. Im Dezember erneute Fieberattacke nach Wechsel der Potenz, ansonsten sei sie recht zufrieden. Im Januar 2008 gab sie an, dass eine Erkältung lange angehalten habe, es ihr ansonsten aber gut gehe. Im Februar kommt sie in die Sprechstunde, weil die Hände viel schlechter seien und sie auch Magenschmerzen habe: Albrecht D. Homöopathische Behandlung der ... AHZ 2017; 262: 22–29 Verordnung Q9 (Zinsser). Im April 2008 war das Kribbeln in den Händen zu 90% weg, die Finger könne sie länger nutzen, bevor sie wieder „springen“. Magenbeschwerden habe sie keine mehr. Bis heute Verordnung von Calcium silicicum bis zur Q30. Im Jahre 2014 wegen Tod ihres Mannes Ignatia (Remedia) und Natrium muriaticum (Remedia) jeweils in C200 verordnet. Fall 3: Bouchard-Arthrose Eine schlanke, deutlich jünger aussehende, weiche 49-jährige Patientin stellt sich im Juli 2014 wegen Gelenkschmerzen vor. Diese habe sie seit 7 Jahren. Damals sei das linke Knie betroffen gewesen und eine Borreliose festgestellt worden, die antibiotisch behandelt worden sei. Dieses Mal würden die Schmerzen umherspringen von den Fingern zu den Handgelenken und die Seiten wechseln. Nach unauffälliger Diagnostik bezüglich Borreliose und rheumati- 25 Praxis Mittelgabe und Verlauf Initial Ende Juli erhielt sie Pulsatilla C30 (Gudjons) 1 × 1 alle 14 Tage. Nach nur kurzer Akutanamnese erschien mir dies, auch aufgrund ihres Auftretens in der Praxis, als das beste Mittel, was sich aber als Fehlverordnung herausstellte. Die Häufigkeit der Gabe versuche ich der Stärke der Beschwerden anzupassen. Im September 2014 nach erfolgter Ersta namnese Wechsel zu Natrium carbonicum C200 (Schmidt-Nagel) 1 × 1 erneut alle 14 Tage. Aus- schlaggebend war die auffällige Empfindlichkeit gegen Schmerzen und die Verschlechterung durch äußere Wärme. Nach der Materia medica waren diese Symptome am besten durch Natrium carbonicum abgedeckt. Nach ca. 1 Woche habe sie bereits keine Gelenkbeschwerden mehr gehabt. Der Folgetermin war nach 4 Wochen, sodass sie insgesamt nur 2 Dosen genommen hatte. Nun verordnete ich nur bei Verschlechterung eine weitere Dosis. Diese nahm sie am 27.11.2014. Im März 2015 berichtete sie über Blähungen, die ich phytotherapeutisch mit CarminativumHetterich® behandelte. Am 15.07.2015 meldet sie sich, weil sie wieder Gelenkschmerzen habe. Nach Natrium carbonicum 1M (Schmidt-Nagel) 1 × 1 hält die Besserung bis heute an. ▶Tab. 1.3 Hierarchisierung 1 = §153 und/oder vollständiges Hauptsymptom ggf. mit Begleitsymptom, 2 = Gemütssymptome, 3 = Allgemeinsymptome, 4 = Familien- und Sozialanamnese, 5 = Lokalsymptome, soweit nicht in 1 Hierarchie Symptome 1 Gelenke (kleine), ziehende Schmerzen, wechselnde Orte (Hände, Finger), brennend/ziehend sehr empfindlich < Hitze bei geringsten Anlässen Verdauungsstörung, Appetitlosigkeit 2 kann nicht zur Toilette auf Reisen/Fremde Kummer plötzlicher Tod des Vaters vor knapp 1 Jahr (auch Ätiologie?) 3 < heißes Wetter (Kopfschmerzen/Migräne) Verlangen: Frisches, im Freien zu sein; Abneigung: Fleisch, Süßes Zähne verfallen, Karies späte Menarche, frühe Menopause (kaum Beschwerden) schnell fettige Haare und unreine Haut 4 Ätiologie: Tod Vater? Vor 1 Jahr; Borreliose? 5 Z.n. rezidivierenden Zystitiden Spannungskopfschmerzen ▶Abb. 4 Repertorisation (TBG, [2]) 26 Albrecht D. Homöopathische Behandlung der ... AHZ 2017; 262: 22–29 Heruntergeladen von: Vanderbilt University. Urheberrechtlich geschützt. scher Erkrankungen wurden radiologisch eine BouchardArthrose und eine Osteopenie festgestellt. In der im September folgenden Anamnese beschreibt sie die Beschwerden als brennend oder ziehend. Bei der Untersuchung ist sie auffallend empfindlich (▶ Tab. 1.3 und ▶Abb. 4). Fall 4: Omarthrose Mittelgabe und Verlauf Eine leicht übergewichtige 60-jährige Patientin, die als Küchenhilfe im Krankenhaus arbeitet, kommt zur Behandlung im April 2010. Beim Orthopäden sei eine Omarthrose beidseits festgestellt worden. Zurzeit erhalte sie Krankengymnastik, aber das laufe jetzt aus, und sie habe noch viel Schmerzen. Insbesondere nach mehr Belastung gibt sie stechende Schmerzen in beiden Schultergelenken an. Morgens sei alles wieder weg. „Wenn ich nicht so eine schwere Arbeit hätte, würde es mir bestimmt gut gehen. Aber ich brauche ja das Geld.“ Die ganze Anamnese sitzt sie mit verschränkten Armen vor mir. Viele Fragen empfindet sie als überflüssig. Die Antworten sind sehr knapp (▶Tab. 1.4 und ▶Abb. 5). Sie erhält Bryonia Q1 (Rosegger) 1 × 3 Tropfen/Tag. Nach 4 Wochen berichtet sie, dass sie nach 2 Tagen Migräne bekommen habe. Daher habe sie die Tropfen nicht mehr genommen. Eine Veränderung hatte sich noch nicht eingestellt. Nach längerem Gespräch erhält sie Bryonia C30 (Gudjons) 1 × 1 Globulus in der Praxis. Nach 6 Wochen berichtet sie, dass die Schmerzen weniger sind, aber zufrieden sei sie so nicht. Nach weiter ausbleibender Besserung erhält sie eine Dosis Syphilinum C1000 (Fincke), weil der Verlauf stagnierte, sie mehr nächtliche Probleme und ein depressives Bild zeigte. Jetzt besserte sich der Fall auch insgesamt. Sie nimmt seitdem bei Bedarf Hierarchie Symptome 1 Schulterschmerz bds. stechend > Ruhe < Belastung 2 verschlossen (Arme verschränkt) Arbeit belastet sie – Sorgen wegen Geld? 3 Sodbrennen (Protonenpumpenhemmer seit Jahren) Füße mit riechendem Schweiß, sonst wenig Schweiß < Paprika 4 Vater Arthrose, Mutter Diabetes mellitus 5 Kopfschmerzen bei Wetterwechsel ▶Abb. 5 Repertorisation (TBG, [2]) Heruntergeladen von: Vanderbilt University. Urheberrechtlich geschützt. ▶Tab. 1.4 Hierarchisierung 1 = §153 und/oder vollständiges Hauptsymptom ggf. mit Begleitsymptom, 2 = Gemütssymptome, 3 = Allgemeinsymptome, 4 = Familien- und Sozialanamnese, 5 = Lokalsymptome, soweit nicht in 1 Beschwerden. Sie habe einen Hallux rigidus und trotz Einlagen starke reißende Schmerzen. Barfuß laufen bessere sie; schlechter nach Belastung und äußerem Druck. „Ich habe immer viel Sport gemacht, nun kann ich nichts mehr.“ Die Handgelenke machen auch Probleme. Dort sei eine Arthrose des Kahnbeins diagnostiziert worden. Oft habe sie ein heißes Gefühl in den Gelenken. Im letzten Frühjahr sei das plötzlich aufgetreten, erst der rechte, dann der linke Fuß, später seien dann das Handgelenk und das Daumensattelgelenk dazugekommen. Dieses Jahr würde man die ersten Deformierungen sehen (Tab. 1.5 und ▶Abb. 6). Mittelgabe und Verlauf 1 × 1 Tropfen der Bryonia Q1–5. Insgesamt hat sie immer wieder Probleme mit den Schultern, aber eine Operation oder dauerhafte Schmerzmedikation benötigte sie bisher nicht. Zeitweise erhält sie Krankengymnastik. Fall 5: Hallux rigidus und Fingerge lenkarthrose Eine schlanke, große 57-jährige Patientin kommt im September 2012 zur Anamnese mit seit ca. 1 Jahr bestehenden Albrecht D. Homöopathische Behandlung der ... AHZ 2017; 262: 22–29 Die Mittelwahl fiel auf Mercurius solubilis. Sie erhielt es in der Q1–5 (Rosegger), täglich 1 × 3 Tropfen. Die Repertorisation nach Boger bot sich an wegen der familiären Belastung mit Arthrose und Parodontose, welche eine „Verankerung“ nach Boger bedeutet und damit von großem Wert ist [5]. Die neu aufgetretenen Warzen und der Schmerzcharakter gaben den Ausschlag für Mercurius solubilis. Zunächst wurde das Handgelenk besser. Im weiteren Verlauf gingen die Fußbeschwerden zurück, sodass die Patientin ausreichend zufrieden war. Sportliche Betätigung war in Maßen möglich. 2014 ließ sie sich am Daumensattelgelenk operieren mit 27 Praxis ▶Tab. 1.5 Hierarchisierung 1 = §153 und/oder vollständiges Hauptsymptom ggf. mit Begleitsymptom, 2 = Gemütssymptome, 3 = Allgemeinsymptome, 4 = Familien- und Sozialanamnese, 5 = Lokalsymptome, soweit nicht in 1 1 Arthrose kleine Gelenke (D1 Fuß, Handgelenk, Daumensattelgelenk) reißend-drückend < Druck, Bewegung > barfuß, (Fleisch) Warzen Fingergelenke seit 3 Monaten 3 Parodontitis (oft geschwollenes Zahnfleisch) kalte feuchte Füße Nägel brechen ab Obstipation (fest und träge) seit einigen Monaten 4 Mutter Arthrose, Osteoporose, Myokardinfarkt, Parodontose Schwester: Arthrose, Parodontose Tbc mütterlicherseits (3 Fälle in der nahen Verwandtschaft) 5 Z.n. Pyelonephritiden (mit Anfang 20) Z.n. rezidivierenden Infekten (35.–45. Lj) Fibrom Mamma rechts (OP) ▶Abb. 6 Repertorisation (Boger, General Analysis mittels BBC-Software; [1]) einem guten Ergebnis. Von den Begleitsymptomen verschwanden die Warzen nach einem halben Jahr Behandlung, das Zahnfleisch kam zur Ruhe und der Stuhlgang normalisierte sich. spiele für die Verwendungsmöglichkeit von Nosoden. Außer als Konstitutionsmittel setze ich sie bei Heilungshindernissen bzw. Stagnation der Behandlung mit Erfolg ein. Diskussion Die beiden letzten Fälle (4 und 5) sehe ich als häufig in der Hausarztpraxis vorkommende Fälle mit nicht vollständig eintretender Besserung, sondern nur befriedigendem Ergebnis. In beiden Fällen handelt es sich um hausärztlich geführte Patienten, die mit dem Erreichten zufrieden sind und bei Problemen vorstellig werden. Eine engere und intensivere Anbindung ist von Patientenseite nicht gewünscht. Obwohl ein noch besseres Resultat von meiner Seite durchaus erstrebenswert wäre, versuche ich die Patienten dort abzuholen und zu begleiten, wo sie stehen. Gerade in der hausärztlichen Praxis möchten viele Patienten eine Kombination der verschiedenen Methoden. Da versuche ich, so viel Homöopathie, wie akzeptiert wird, anzuwenden. Auch eine Verbindung mit Phytotherapie wie in Fall 3 oder den zusätzlichen Einsatz von Blutegeln wende ich an. Damit der Patient das bestmögliche Ergebnis erhält, ist es wichtig, immer wieder die momentane Zufriedenheit mit der Therapie abzufragen und ggf. anzupassen. In den meisten hier vorgestellten Fällen habe ich mich auf das gut beobachtete, vollständige Symptom verlassen. Außer der Lokalisation verwende ich möglichst Empfindung und Modalitäten, wenn der Patient sie klar benennen kann. Dies funktionierte sehr gut in den Fällen 2, 3 und 4. Sollte darüber keine Auswahl getroffen werden, ist meiner Erfahrung nach die Hinzunahme von sehr wenigen (max. 2) klaren Lokal- oder Allgemeinsymptomen hilfreich, wie in Fall 2. Dabei verwende ich nur zurzeit auch bestehende Symptome. Im Fall 3 lag die Gewichtung etwas anders, da die Beschreibung der vorherrschenden Beschwerden nach der Anamnese nicht sehr individuell war. Aber auch hier standen die Lokalbeschwerden (Gelenkschmerzen) bei der erfolgreichen Verordnung im Vordergrund. Ergänzt werden musste dies durch ein auffälliges Allgemeinsymptom, die auffällige Empfindlichkeit, die auch wahlanzeigend war. Fall 1 und 4 sind schöne Bei- 28 Albrecht D. Homöopathische Behandlung der ... AHZ 2017; 262: 22–29 Heruntergeladen von: Vanderbilt University. Urheberrechtlich geschützt. 2 Die genaue Repertorisation der Gelenksymptome oder auch ihrer hervorstechenden Eigenschaften scheint zu einer guten Verschreibung zu führen. Das ist insofern besonders hilfreich, da diese Beschwerden den Patienten sehr präsent sind und damit gut beschrieben werden können. Die erfolgreichsten Verordnungen gelangen durch genaue Aufnahme der Symptome in Empfindung, Ort und Modalität. In der Regel wurde mit dem TBG [2] repertorisiert, wobei ich sonst nicht überwiegend damit arbeite, sondern zu fast gleichen Anteilen mit dem SY [10] und Boger [1][11]. Ermutigend fand ich den doch oft guten Verlauf der subjektiven Beschwerden bei einer als degenerativ geltenden Erkrankung. Nach dem Stand der Forschung laufen im arthrotischen Gelenk und in dessen Gelenkschleimhaut eine Vielzahl von Immunprozessen ab, sodass es über eine rein degenerativ bedingte Erkrankung hinausgeht [2]. Dies führt möglicherweise zu der doch guten Beeinflussbarkeit der Schmerzen, unabhängig von der Krankheitsdauer und den festgestellten anatomischen Veränderungen. Korrespondenzadresse Dr. med. Daniela Albrecht Grüppenbührener Str. 7 27777 Ganderkesee E-Mail: dr.daniela-albrecht@gmx.de Literatur [1] BBC 5.00. Verlag von der Lieth; 2001 [2] von Bönninghausen C. Therapeutisches Taschenbuch. PC-Programm V3.0.0 rot [3] DEGS. Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland. Basispublikation. Im Internet: www.degs-studie.de/deutsch/ ergebnisse/degs1/degs1-basispublikation.html; Stand 18.07.2017 [4] Fink W, Haidinger G. Die Häufigkeit von Gesundheitsstörungen in 10 Jahren Allgemeinpraxis. ZFA – Zeitschrift für Allgemeinmedizin 2007; 83: 102–108 [5] Krustev E, Rioux D, McDougall JJ. Mechanisms and mediators that drive arthritis pain. Curr Osteoporos Rep 2015; 13(4): 216–224 [6] Ohlendorf D, Mayer S, Klingelhöfer D et al. Arthrose. Eine szientometrische Analyse. Orthopäde 2015; 44: 71–79 Bei der sicher zunehmenden Prävalenz und Inzidenz der Arthrose kann die homöopathische Behandlung eine erfolgreiche nebenwirkungsfreie Methode sein, die entweder alleine ausreichend hilft oder mindestens den Analgetikagebrauch deutlich reduziert und Operationen vermindert oder hinauszögert. [7] Robert Koch Institut. Arthrose. Heft 54. Robert Koch Institut; 2013. Im Internet: www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsT/ arthrose.pdf?__blob=publicationFile; Stand: 18.07.2017 Über die Autorin [10] Schroyens F. RadarOpusPro, 1.43.8. Synthesis Treasure Edition 2009V Deutsch Dr. med. Daniela Albrecht Fachärztin für Allgemeinmedizin, Rettungsmedizin, manuelle Therapie. Seit 2009 niedergelassen in einer kassenärztlichen Gemeinschaftspraxis. Zusatzbezeichnung Homöopathie seit 2003, Homöopathie-Diplom. Homöopathische Ausbildung bereits im Studium u.a. bei Dario Spinedi. Weiterbildungsermächtigung Homöopathie seit 2010. Lehrbeauftragte für Allgemeinmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover und an der Universität Oldenburg. Albrecht D. Homöopathische Behandlung der ... AHZ 2017; 262: 22–29 Heruntergeladen von: Vanderbilt University. Urheberrechtlich geschützt. Schlussbetrachtung [8] Trebin E. Miasmen und Minerale. ZKH 2003; 47: 80–89 [9] Trebin E. Über den Wert der kleinen Mittel – Kombinierte Arzneien in der Homöopathie. Jahrestagung. Weimar; 2013 [11] Winter N. Der Schlüssel zu C.M. Bogers „Synoptic Key“. Hamburg, Verlag für Homöopathie B. von der Lieth; 2007: 53–54 Bibliografie DOI https://doi.org/10.1055/s-0043-115940 AHZ 2017; 262: 22–29 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 1438-2563 29
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